Die Kastanie von Haus Herl

Der Vater kam von Köln zurück. Die Kinder liefen ihm entgegen, als er mit klirrenden Sporen die Treppe heraufstieg, und fragten, ob er etwas mitgebracht habe. „Kommt mit in die warme Stube!“ sagte er.

Ein Erbe für Generationen

 

Dort griff er in die Manteltasche und holte etwas heraus; das sah aus wie braune Kieselsteine. Es klang aber nicht hart, als der Vater eine Handvoll auf den Tisch fallen ließ. „Das sind Früchte vom Kastanienbaum“, erklärte er. „Sie heißen Maronen. Ich habe noch mehr auf dem Markt gekauft. Man kann sie rösten und essen. Aber ein paar davon heben wir auf, bis es Frühling ist. Dann pflanzen wir sie ein.“


Die Küchenmagd hängte einen Rost über das Herdfeuer und briet die Maronen, die dabei mit einem Knall aufplatzten. Dann bekam jedes Kind ein Schälchen voll. „Langsam, langsam!“ warnte die Mutter. „Verbrennt euch nicht den Mund!“
Die gebratenen Kastanienfrüchte waren schnell verzehrt. Die aufgesparten legten die Kinder im März, als die Bauern rund um die Burg zu pflügen begannen, in die Erde. Die Magd, die den Gemüsegarten der Burg besorgte, hatte dafür einen sonnigen Platz an der Mauer ausgesucht, denn die Mutter wusste, dass Kastanienbäume aus Ländern weit im Süden stammen und es warm haben wollen.

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„Wann können wir Maronen ernten?“ fragten die Kinder. „In zwanzig Jahren, glaube ich“, antwortete die Mutter und strich ihrem Töchterchen über die Haare, „aber dann bist du, so Gott will, schon verheiratet und wohnst in einer anderen Burg oder in einem schönen steinernen Haus in der Stadt.“ „Ich will aber nicht weg, ich will immer bei euch bleiben“, sagte das kleine Mädchen, und die Mutter lächelte. Vor vielen Jahren hatte sie dasselbe zu ihren Eltern gesagt, damals zu Hause in der Burg an der Ahr.

Die Kastanien kamen bald aus dem Boden heraus, und die Kinder schauten anfangs jeden Tag danach, ob die Pflänzchen wieder ein Stück gewachsen waren oder ein neues Blättchen bekommen hatten. Als es einmal lange nicht regnete, gossen sie die niedlichen Bäumchen jeden Tag. Darum blieben sie grün, während das Gras draußen vor der Burg gelb wurde.


Dann kam Weihnachten. Die Familie ging nach Merheim in die Kirche. Da erzählte der Pfarrer, dass Jesus vor 1364 Jahren auf die Welt gekommen ist, um uns das ewige Leben zu schenken. Im Januar schneite es, und dann wurde es so kalt, dass der Rhein zufror und sie mit dem Pferdeschlitten nach Köln hinüberfahren konnten, während der Vater auf seinem schweren Ross daneben ritt.

Als im März der Schnee geschmolzen war, gingen die Kinder Tag für Tag zu dem warmen Platz bei der Gartenmauer, aber die Bäumchen bekamen keine Blätter. „Der Frost hat sie umgebracht“, erklärte die Mutter, und die Kinder begannen zu weinen. „Ich werde wieder zum Markt in Köln reiten“, tröstete sie der Vater, „und Maronen kaufen. Die pflanzen wir im Herbst ein. Und ich verspreche euch: Einen solchen Winter wird es kein zweites Mal geben.“ 

Es war an einem klaren, sonnigen Herbsttag, mehr als zwanzig Jahre später, da besuchte die Schwester ihren Bruder, den jetzigen Herrn von Haus Herl. Sie hatte ihren beiden Kindern von der Kastanie erzählt und ging mit ihnen gleich zu dem warmen Platz an der Gartenmauer. Da standen vier Bäume mit großen Blättern, deren Kronen ineinander wuchsen. Einer hatte einen dickeren Stamm als die anderen, und an einem dicken waagerechten Ast hatte der Bruder, der Onkel, eine Schaukel für sein Söhnchen aufgehängt. Die Großmutter stand daneben und schubste den kleinen hin und her. Aber dann nahm sie ihren Enkel auf den Arm, und die Kinder ihrer Tochter durften nach Herzenslust schaukeln.

Ein plötzlicher Windstoß fuhr in die Kastanien, und aus dem dunkelgrünen Laub des Schaukelbaumes fielen stachlige Klumpen ins Gras. „Vor langer Zeit“, sagte die Großmutter, „habe ich prophezeit, dass wir einmal, so Gott uns am Leben lässt, Kastanien ernten werden. Dieses Jahr ist es so weit.“ Und dann warnte sie die Enkel: „Langsam, langsam, lasst die Finger davon! Die stechen ganz schlimm“ Die Mutter aber nahm das Messerchen, das an ihrem Gürtel hing, und schnitt die stachligen Pelze auf, so dass die glänzenden braunen Maronen zum Vorschein kamen. 

Dreißig Jahre danach stand ein alter Mann unter den Kastanien und schaute seinen beiden Enkeln zu, wie sie sich stritten, wer als erster auf die Schaukel durfte. „Wie ich so alt war wie ihr“, sagte er, „hab ich auch hier geschaukelt, manchmal mit dem Onkel und der Tante, die leider so weit von uns wohnten. Aber gestritten haben wir nie. Wir hatten ja alle Zeit der Welt.“ Als aber das Streiten nicht aufhören wollte, rief er einen Knecht, der sollte sich die Äste anschauen und eine zweite Schaukel aufhängen.

Anno Domini 1435, so steht es in der Chronica der heiligen Stadt Coellen, fror der Rhein zu. Man konnte ihn als Straße für die schweren Fuhrwerke benutzen, die Brennholz von Mülheim in die große Stadt brachten. Noch im Mai gab es harten Frost, und deswegen starb eine der vier Kastanien ab, aber der mittlere Baum blieb ganz gesund und wurde stärker, und Kinder spielten unter ihm und schaukelten, von Generation zu Generation, und Eltern und – nicht immer – Großeltern schauten ihnen versonnen zu und erzählten dann von ihrer eigenen Kindheit.

Irgendwann riss ein schwerer Sturm eine der drei Kastanien um, man wusste nicht, warum gerade diese, und ein Menschenalter danach, als Haufen von gewalttätigen Soldaten hin und her durchs Land zogen, brannte Haus Herl ab. Der Wind trieb den Rauch und die Flammen auf die zwei Kastanien zu, und man dachte, sie würden zugrunde gehen wie die alten Bauten. Aber im Jahr darauf zeigte es sich, dass der Baum, an dem die Schaukel hing, die Hitze überlebt hatte. Lange Zeit blieb Herl eine öde Ruine, in der die armen Leute von Buchheim und Wichheim ihre Ziegen weiden ließen und wohin sie im Herbst kamen, um die Kastanien zu sammeln. Sie wurden oft enttäuscht, denn wenn der Sommer verregnet und kühl gewesen war, steckte nichts Essbares in den stachligen Hüllen.

Dann baute der Ritter von Nagel das Haus und die Ställe und Scheunen wieder auf. Als er an einem klaren, sonnigen Herbsttag seine Kinder auf den Bauplatz mitbrachte, rannten sie gleich zu dem dicken Baum und maßen mit ausgebreiteten Armen seinen Umfang.

Der Vater aber schaute nach oben, entdeckte den waagerechten Ast und versprach, an ihm eine Schaukel aufzuhängen.
So begann von neuem die Geschichte mit den Kindern, die im Schatten des uralten Baumes hin und her durch die Luft schwangen und die, so Gott wollte, Eltern und Großeltern wurden.
Sie ging weiter bis vorgestern, Gott gebe es, dass sie nicht zu Ende geht.

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